Arbeit und Struktur* von Wolfgang Herrndorf ist kein gewöhnliches Tagebuch. Schonungslos offen, klug und oft humorvoll beschreibt er sein Leben, nachdem eine Diagnose alles verändert hat. In meiner Rezension erfährst du, warum mich dieses Buch so tief bewegt hat – vielleicht wird es auch dich berühren.
Inhalt
- Wer hat das Buch geschrieben?
- Warum habe ich das Buch gelesen?
- Worum geht's?
- Warum ist das Buch für Schreibende interessant?
- Was denke ich über das Buch?
Wer hat das Buch geschrieben?
Wolfgang Herrndorf war ein deutscher Autor. Bekannt ist er in erster Linie durch seine beiden Romane Tschick* und Sand*. Davor hatte er Malerei studiert und arbeitete unter anderem als Illustrator für die Satire-Zeitschrift Titanic*.
Arbeit und Struktur* (2013) ist ein autobiografisches Werk, in dem Herrndorf Einblick gibt über seine Erkrankung, seine Arbeit und sein Leben.
2013 beging Herrndorf in Berlin Suizid.
Wer Herrndorf etwas näher kennenlernen möchte, dem empfehle ich die Seite Über Wolfgang, die seine Ehefrau für ihn gemacht hat – dort sind auch Kunstwerke von ihm zu sehen, die wirklich beeindruckend sind.
Warum habe ich das Buch gelesen?
2015 habe ich eine Bachelor-Arbeit* über Herrndorfs Jugendbuch Tschick* geschrieben. Den Roman hatte ich damals für DaF-Lernende didaktisch aufbereitet. Im Rahmen der Arbeit hatte ich Auszüge von Arbeit und Struktur* bearbeitet, kam aber nie dazu, es komplett zu lesen.
Neulich stieß ich in der Stadtbibliothek zufällig auf Arbeit und Struktur*, das ausgestellt wurde, und dachte mir: Zeit, es zu lesen.
Arbeit und Struktur* ist aus einem digitalen Tagebuch hervorgegangen, das Herrndorf zu führen begann, nachdem er seine Krebsdiagnose erhalten hat. Die Beiträge sind immer noch online und du kannst das Buch auch ganz kostenfrei hier lesen.
Trotzdem ist es doch noch einmal ein besonderes Gefühl, solch ein Leben zwischen zwei Buchdeckeln in Händen zu halten; die Ereignisse chronologisch mitzuverfolgen, berührte mich sehr.
Worum geht's?
Das Buch enthält tagebuchartige Beiträge und Gedanken, gespickt mit vereinzelten Rückblicken sowie Fotos. Zuletzt folgt ein Nachwort, das Herrndorfs Freunde Marcus Gärtner und Kathrin Passig verfasst haben und das auf Wunsch des Autors auch die medizinisch-fachliche Beschreibung seines Todes enthält.
Wie es gemacht wurde; wie es zu machen sei. Oder bei Misserfolg eben: Wie es nicht zu machen sei. Kaliber, Schusswinkel, Stammhirn etc. für Leute in vergleichbarer Situation. Das hat mich so viele Wochen ungeheuer beunruhigt, keine exakten Informationen zu haben. – Arbeit und Struktur*, S. 445
Die Tagebucheinträge beginnen kurz nachdem Herrndorf seine Krebsdiagnose erhalten hat. Er wird im Pinguin-Kostüm in die Psychiatrie eingeliefert und schildert in kurzen Einträgen sein Leben, seine Gedanken, seinen Krankheitsverlauf – mit allen Hoffnungen, Widrigkeiten und Alltäglichkeiten.
Herrndorf schreibt darüber, wie Arbeit und Struktur ihm dabei helfen, seinem Leben trotz der Unvermeidbarkeit des baldigen Todes noch Sinn und Lebensfreude abzugewinnen.
Seine beiden erfolgreichsten Bücher Tschick* und Sand* hat er in intensiven, überaus produktiven Arbeitsphasen während der Erkrankung vollendet. Zwar entstanden sie nicht aus dem Nichts heraus, Herrndorf hatte davor bereits an ihnen gearbeitet. Aber während er davor die Angewohnheit hatte, »monatelang Varianten jedes Satzes durchzuprobieren« (Arbeit und Struktur*, S. 443), traf er während der Krankheit schnelle Entscheidungen und schrieb beinahe manisch, um die Werke fertigzustellen.
Sie waren ihm auch ein Anker und gaben ihm in der schweren Zeit Struktur.
Drei Wochen ist »Tschick« raus, und in keiner Buchmessenbeilage und keiner Zeitung. Es ist mir nicht so gleichgültig wie früher. – Arbeit und Struktur*, S. 150
Arbeit und Struktur* zeigt, wie ein Mensch damit umgeht, dass die Zeit knapp ist und die Aussichten düster. Was gibt Herrndorf Kraft und Hoffnung? Wie sieht sein Leben von innen aus?
Nicht zuletzt geht es in Arbeit und Struktur* auch viel ums Thema Sterben und den Wunsch, selbstbestimmt zu sterben. Das Buch ist im Grunde ein indirektes Plädoyer für sichere Suizid-Möglichkeiten. Herrndorf schildert seine Erkrankung und wie sehr ihm der Gedanke Mut gibt: Wenn alles scheitert, kann er sein Leben beenden.
Themenwoche Sterben auf der ARD. Komplett Enthirnte wie Margot Käßmann versuchen, ein freies Leben gelebt habenden Menschen das Recht auf Freiheit im Tod zu bestreiten. Die Position der Vernunft wie immer dünn besetzt. Ein Mann, der seine alzheimerkranke Frau beim Suizid unterstützte, sitzt neben einer Zumutung namens Kapuzinermönch Bruder Paulus, dem sein ihm das Gesicht verwüstet habender zweistelliger IQ befiehlt, eine Stunde lang mit zusammengekniffenen Augen angestrengtes Nachdenken simulierend in die Runde zu schauen und seinen Vorredner anzublaffen, warum er seiner Frau denn nicht gleich die Pulsadern aufgeschnitten habe. [...] Wobei an die Medikamente, wie gesagt, gar nicht ranzukommen war. An überhaupt nichts Sicheres. Nichts Einfaches, nichts Hundertprozentiges. Erschießen ist in 76 bis 92 Prozent der Fälle tödlich, bei Schüssen in den Kopf liegt die Quote etwas höher. Aber auch da überleben 3 bis 9 Prozent, und die haben dann Hirnschäden und sind entstellt. – Arbeit und Struktur*, S. 369/371
Warum ist das Buch für Schreibende interessant?
Gerade für Autorinnen sind Einblicke in besondere Lebenswelten als Inspirationsquelle wichtig. Oft genug müssen wir uns in andere Menschen einfühlen, um überzeugende Figuren zu erschaffen. Deshalb kann es helfen, sich mit einem Spektrum von unterschiedlichsten Lebenswelten vertraut zu machen.
In Arbeit und Struktur* treffen zwei interessante Lebenswelten aufeinander: die eines talentierten Autors und die eines todkranken Menschen, der weiß, dass er bald sterben wird.
Selten bekommt man als Leserin die Gelegenheit, ein autobiografisches Dokument über die Gedanken eines Todkranken zu lesen, der über Herrndorfs Wortgewalt, Sachlichkeit und Humor verfügt.
Er schildert Arztbesuche, Psychiatrieaufenthalte, sein durch die Erkrankung verändertes Denken. Er zeigt am eigenen Beispiel, wie erkrankte Menschen ihre verbleibende Zeit in Wartesälen verbringen und wieder und wieder Anträge bei Krankenkassen stellen müssen, die abgelehnt werden. In dieser schweren Situation hört das alltägliche Leben auch für Herrndorf nicht auf: Der Nachbar nimmt keine Rücksicht und hört laut Musik. Der Autor wird auf dem Rad von einem Auto angefahren, hat Geldprobleme, die Wohnungssuche in Berlin gestaltet sich schwierig. Und dann kommt der Erfolg von Tschick.
Wohnungsbesichtigung in Charlottenburg. Der Versuch, mein Leben nicht in einer dunklen 1-Zimmer-Hinterhofwohung ausklingen zu lassen, erweist sich als schwierig. Nie im Leben einen Pfennig Schulden gehabt, durch »Tschick« Geld wie Heu auf dem Konto, aber kein Einkommensnachweis. Ohne Bürgschaft meiner Eltern käme ich an keine Wohnung ran. [...] C. sucht immer noch und immer wieder nach einer Wohnung für mich. Fünfter Stock, hell, Laminat, 2 bis 3 Zimmer, Dachterrasse. Toll, wenn man plötzlich Geld hat. Und deprimierend, was soll ich mit einer Terrasse? Es kommt kein Sommer mehr. Dazu die Formalitäten, der Bürokratiequatsch, die verlorenen Tage. Hier in meinem Hinterhofloch weiß ich wenigstens, wo alles ist. Sogar die Dusche funktioniert jetzt. – Arbeit und Struktur*, S. 157/279
Was denke ich über das Buch?
Ich war von Herrndorfs Arbeit und Struktur* komplett gefesselt. Es ist ein intimes Zeugnis der letzten Tage eines talentierten Autors. Durch das Lesen dieses Buchs habe ich gelernt: Selbst in ausweglosen Situationen sollte man Mut schöpfen, das Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen und trotz allem etwas erschaffen, auf das man stolz sein kann.
Hast du Arbeit und Struktur* bereits gelesen? Falls ja, teile gerne deine Eindrücke in den Kommentaren. Buchtipps sind ebenfalls immer gerne gesehen – besonders, wenn sie auf ähnliche Bücher aufmerksam machen.
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