Der Salzpfad

Der Salzpfad

Andrea Hahnfeld

Der Salzpfad* (Originaltitel: The Salt Path*) ist ein autobiografisches Sachbuch von Raynor Winn aus dem Jahr 2018 und meines Erachtens auch ein großartiges Beispiel von gelungenem Nature Writing.

Das Buch erzählt die Geschichte von Ray und ihrem Mann Moth, die ihr Haus verlieren, obdachlos werden – und sich im Schock über diese traumatische Wende in ihrem Leben entscheiden, den South West Coast Path zu laufen.

Besonders berührend ist die tragische Ausgangssituation von Ray und Moth. 2014 verlieren sie nach einem dreijährigen Gerichtsprozess ihr Farmhaus in Wales und ihre gesamten Ersparnisse. In einem Alter, an dem andere bereits ihre Rente vorbereiten, stehen sie plötzlich mittellos im Leben. Hinzu kommt, dass Moth erfährt, unheilbar krank zu sein.

Statt auf eine Sozialwohnung zu warten, wollen die beiden die Zeit, die ihnen bleibt, nutzen. Sie brauchen Abstand von Wales, das sie an den großen Verlust erinnert. Die Eheleute haben nichts mehr zu verlieren als das Leben und beschließen, unterwegs über ihre Situation nachzudenken.

Wir waren nicht auf dem Weg zu einem Neuanfang, bei dem uns das Leben mit all seinen Verheißungen offenstand. Die Erde hatte einen Riss bekommen; wir flohen vor dem Riss, hatten uns eine fremde Haut übergestreift. Fuhren einfach davon. Was vor uns lag? Der Weg, nur der Weg. (aus: Der Salzpfad*)

Mit gerade mal 48 Pfund pro Woche, spärlicher Ausrüstung und gebeutelt vom Leben erwandern die Eheleute Großbritanniens längsten Fernwanderweg, der über 1.014 km entlang der Küsten von Devon, Cornwall und Dorset verläuft. Dabei erklimmen sie fast das Vierfache der Höhe des Mount Everest.

Bild der Küste
Der steile Anstieg bei Polrudden – South West Coast Path (Foto von Wayland Smith)

Der Salzpfad* ist eine berührende Geschichte über die Ungerechtigkeiten des Lebens, die heilende Kraft der Natur – und wie sich in aussichtslosen Situationen im wahrsten Sinn des Wortes ein Weg auftut. Man muss nur bereit sein, ihn zu gehen.

Mit fünfzig einen Rucksack zu packen ist nicht ganz dasselbe wie mit zwanzig. (aus: Der Salzpfad*)

Warum habe ich »Der Salzpfad« gelesen?

Ich liebe besonders Bücher, auf die ich zufällig stoße. Sie sind für mich Zeichen, die mir die Welt schickt. Genau ein solches Buch ist Der Salzpfad*, das ich bei einer Online-Recherche nach schönen Buch-Covern entdeckt habe. Die linoleumschnittartige Kunst hat mich zutiefst angesprochen.

Dann entdeckte ich den Spiegel-Besteller-Sticker und war verwundert, dass ich von diesem Buch davor noch nie gehört hatte.

Ich bestellte mir die Leseprobe und war sofort gebannt vom der berührenden Geschichte und dem poetischen Stil.

Was mochte ich an »Der Salzpfad«?

Der Salzpfad* ist eines der Sachbücher, die sich überhaupt nicht so lesen. Ich hatte mir die Leseprobe auf meinen Kindle gezogen und war sofort fasziniert, von der Geschichte und dem Schreibstil.

Als ich das Buch bei Thalia kaufen wollte, war ich überrascht, dass man mich in die Abteilung Sachbuch/Reise schickte. Denn für mich las es sich wie ein Roman nach einer wahren Begebenheit. Dass dieser Leseeindruck entstehen konnte, liegt meines Erachtens am poetischen Erzählstil der Autorin. Dieser wirkt auf mich roh und kraftvoll wie die Natur, über die Raynor Winn schreibt.

Zudem löste die Lektüre in mir eine unbezwingbare Wanderlust aus. Durch die eindrucksvollen Naturbeschreibungen fühlte ich mich an die rauen Küsten Großbritanniens versetzt. Der Salzpfad* lädt dazu ein, sich wandernd selbst auf die Spur zu kommen.

Im Grunde hatten wir alle, die wir auf dem Küstenpfad unterwegs waren, etwas gemeinsam; wir waren wohl alle auf der Suche. Suchten nach der Vergangenheit oder der Zukunft, oder nach etwas, was uns fehlte. ... Wir bewegten uns auf dem schmalen Grat zwischen gezähmt und wild, verwirrt und angekommen, Leben und Tod. Am Rande der Gesellschaft. (aus: Der Salzpfad*)

Der Salzpfad* ist Nature Writing in seiner ergreifendsten Art. Niemand muss die Gesellschaft hinter sich lassen, um tiefe Naturerfahrungen zu machen. Der Salzpfad* zeigt: Die Schönheit der Natur beginnt am Wegesrand.

Was kann ich als Autorin von »Der Salzpfad« lernen?

Ein Buch ist immer mehr als die Summe seiner Teile. Um alles zu benennen, was mich an Der Salzpfad* begeistert hat, müsste ich es nacherzählen. Für diesen Abschnitt habe ich daher einige Aspekte ausgewählt, die mich als schreibende Person besonders beeindruckt haben.

Der Salzpfad* ist eines jener Bücher, bei denen die eigentliche Geschichte in den Hintergrund tritt. Es geht nicht darum, was erzählt wird, sondern wie es erzählt wird.

Offenheit

Der Salzpfad* zeigt, welche Kraft eine Geschichte entfaltet, die in aller Offenheit erzählt wird. Ray und Moth werden durch ungerechte Umstände obdachlos und zu jenen, die vom behausten Rest der Gesellschaft misstrauisch beäugt werden.

...mindestens 280.000 Haushalte im Vereinigten Königreich [gaben 2013 an], obdachlos oder von Obdachlosigkeit bedroht zu sein. ... Lediglich 52.000 davon wurden offiziell anerkannt, da sie weder eine Familie noch Freunde hatten, wo sie unterkommen konnten (aus: Der Salzpfad*)

Doch statt wie unfreiwillig Gezeichnete darüber zu schweigen, spricht Ray über das Geschehene und gibt der Obdachlosigkeit ein Gesicht jenseits des Klischees. Ein Gesicht, das – sollte sich das Leben unglücklich wenden – das eigene sein könnte.

Mich hat das Buch zum Nachdenken gebracht: Wie denke ich über obdachlose Menschen? Welche Stempel hat das Leben mir aufgedrückt? Welche davon sind mit Scham verbunden?

Für mich spricht aus Der Salzpfad* der Mut, diese fremde Scham nicht anzunehmen. Niemand sollte sich dafür schämen, wozu ihn die Umstände gemacht haben.

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Lektion 1 Für kraftvolle und bewegende Geschichten lohnt es sich an jene Grenze zu gehen, an der sich Offenheit unangenehm anfühlt, und dort das Schambehafte zu ergründen.

Naturbeschreibungen

Im gesamten Buch blüht die Natur auf jeder Seite auf. Meine liebste Stelle ist, als Ray mit Moth ins eiskalte Meer taucht, um einen Schwarm Fische zu sehen.

»Du musst mit rauskommen, das musst du dir ansehen.« (…) Ein Stück vom Felsen entfernt, draußen im mondbeschienenen Wasser, war die Kälte kaum auszuhalten. (…) Schauer aus Weiß und Silber zuckten durchs Wasser, in jeder Welle funkelten irisierende, kristallene Splitter aus Licht. Der Mondschein, der Ursprung des Ganzen, tanzte und schwankte und brach sich im Wasser, sodass selbst der Sand und die Felsen auf dem Grund glitzerten. Als ich wieder auftauchte, um Luft zu holen, perlten vor meinen Augen Lichtbläschen. Moth nahm mich bei der Hand und zog mich weiter hinaus. Und wieder ging es nach unten. Hier lag der Sandboden tief unter mir, war aber noch in Sichtweite. Moth ließ mich los und streckte die Arme aus. Schuppenbedeckte Leiber hingen still im Wasser, ihre Haut reflektierte schimmernd das Licht, als hätte das mondbeschienene Wasser Gestalt angenommen. (aus: Der Salzpfad*)

Die Verbindung mit der Natur ist es, die einen spürbaren Wandel auslöst:

Ein Wechsel der Jahreszeiten war nicht nur äußerlich spürbar ..., sondern vollzog sich auch in meinem Innern. Ich sträubte mich nicht länger, kämpfte nicht mehr, das Unabänderliche zu verändern, hielt nicht mehr krampfhaft und voller Angst an einem Leben fest, das wir uns nicht hatten bewahren können... In mir war eine neue Jahreszeit angebrochen, eine mildere Jahreszeit der Akzeptanz. ... Das, was mich im Innersten ausmachte, war nicht verloren gegangen. (aus: Der Salzpfad*)
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Lektion 2 Mensch und Natur stehen in einer engen Verbindung – was wir manchmal vergessen. Fürs Schreiben kann es sich lohnen, echte Naturerfahrungen zu machen und aus ihnen heraus die Texte entstehen zu lassen.

Geschichten & Legenden am Wegesrand

Die eigene Geschichte ist untrennbar mit den Geschichten verbunden, die unseren Weg kreuzen. Ich fand es wunderbar, dass Raynor in ihrem Buch solche Geschichten aufgreift und mit der eigenen verwebt. Dadurch erhält das Buch eine Lebendigkeit und Vielschichtigkeit, die in die Erzählung zieht.

So beispielsweise die berührende Episode um das Unglück des Frachtschiffs Union Star, das 1981 im Hurrikan manövrierunfähig vor der Küste von Mousehole lag. Trotz des heftigen Sturms eilte dem Frachter ein ortsansässiges Rettungsschiff zu Hilfe.

Seine Besatzung konnte noch über Funk durchgeben, dass sie vier Menschen vom Frachtschiff gerettet hatte, dann brach der Kontakt ab. Niemand auf den beiden Schiffen überlebte. (aus: Der Salzpfad*)

Das tragische Ereignis hat den kleinen Ort Mousehole nachhaltig umgekrempelt und die Mietpreise in die Höhe getrieben.

Sie wollen dafür tausend Pfund im Monat. ... Seit der Sache mit dem Rettungsboot ist in unserem Dorf nichts mehr wie früher. (aus: Der Salzpfad*)

Einige der Geschichten entfalten in ihrer schlichten Sprache eine berührende Tiefe. So stehen Ray und Moth eines Morgens an einem Kliff und beobachten einen unbekannten großen Vogel am Himmel, als ein alter Mann zu ihnen stößt. Er spricht sie auf den Wanderfalken an und wie sehr er sich freut, dass das Tier diesen Sommer zugewandert sei. Mit der Gesprächigkeit der Alleinlebenden erzählt er, bereits ein ganzes Leben in der Nähe des Kliffs zu leben, in einer Hütte im Wald seine Hühner zu versorgen, Holz zu machen. Nüchtern und wie nebenbei berichtet er, dass er erblinden werde – und ließ mich eigenartig betroffen zurück. Die unmittelbar darauf folgenden Worte brachten mich zum Weinen, obwohl ich selbst nicht genau weiß, weshalb:

Ich komme her, sooft ich kann, wissen Sie, ich muss mir alles einprägen für die Zeit, in der ich nichts mehr sehen kann. (aus: Der Salzpfad*)

Vielleicht machte mich die Erkenntnis betroffen, dass es im eigenen Leben Momente gäbe, deren Schönheit sich einzuprägen lohnte. Und was wäre, wenn ich nicht davon ausgehen würde, sie jeden Tag sehen zu können. Die Zwischentöne der Vergänglichkeit des Lebens und des Moments machten Der Salzpfad* für mich so eindrücklich.

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Lektion 3 Egal welche Geschichte du erzählst, es kann sich lohnen, wenn du deine Geschichte als Faden in einem Geflecht vieler anderer Geschichten verstehst.

Humor & Optimismus

Mich hat besonders beeindruckt, dass trotz der aussichtslosen Lage – oder vielleicht gerade deshalb – sich Rays Blick auf die humorvollen Seiten des Lebens schärft.

Die erste Hälfte der Wanderung wird getragen durch den Humor, der entsteht, weil Moth mit einem berühmten Dichter verwechselt wird, ihm aber niemand glauben will, wer er wirklich ist:

»Moth ist sein richtiger Name, aber er ist kein Schriftsteller.«
»Okay, wir verraten nichts, nehmen Sie doch noch ein bisschen Lasagne.« (aus: Der Salzpfad*)

Diese Verwechslung verärgert Moth zuerst. Im Verlauf der Wanderung wehrt er sich jedoch nicht mehr länger gegen seine Ähnlichkeit mit dem berühmten Doppelgänger, nutzt sie sogar um etwas Geld zu verdienen: Im Künstlerdorf St. Ives trägt er sein Lieblingsbuch Beowulf* vor.

Moth lehnte sich lässig an die Wand, als wäre es das Normalste der Welt. Aber er war schon immer ein guter Geschichtenerzähler gewesen. (…) Aber das hier war etwas anderes. (…)
»The Spear Danes in days gone by
And the kings who ruled them had courage and greatness …«
Ein paar Leute blieben stehen und drehten sich zu ihm um. Zwei alte Männer standen mit verschränkten Armen da und nickten. (…) Er warf mir seinen Hut zu – auch das noch (…) (aus: Der Salzpfad*)

Eine wiederkehrendes Motiv ist der Geldmangel, über dem das Paar seine eigene Art von Galgenhumor entwickelt. Denn in manchen Wochen erhalten Ray und Moth aus ihnen unerklärlichen Gründen weniger als die zugesicherten 48 Pfund. Das führt dazu, dass ihnen oft nichts anderes übrig bleibt, als tagelang nur Nudeln zu essen:

Guthaben: fünfundzwanzig Pfund und zweiundsechzig Pence. Heute verfügbarer Betrag: zwanzig Pfund. Warum so wenig? (…)
Moth legte den Arm um mich.
»Wir kommen schon klar.(…).«
(…) Ich musste mich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.
»Dann also wieder Nudeln. Wir lieben Nudeln.«
»Jaaa. Wir lieben Nudeln.« (aus: Der Salzpfad*)

Dann gibt es da Episoden, in denen das Leben einem einfach besondere Begegnungen schenkt. Als Moth und Ray in der Nähe eines Freilichttheaters ihr Zelt aufschlagen wollen, steigt ein älteres Ehepaar aus ihrem Landrover.

»Entschuldigen Sie, was ist denn da los, wohin gehen die alle?«
»Zum Theater. Zum Minack, dem berühmten Freilichttheater … Möchten Sie denn die Aufführung sehen? Ich spendiere Ihnen den Eintritt, aber wir müssen los, sonst verpassen wir noch den Anfang.«
Wir folgten dem Paar durch das Gebäude am Eingang und hinaus auf das offene Kliff. (…)
»Vielen herzlichen Dank. Wir zahlen Ihnen das Geld natürlich zurück. Wie heißen Sie?«
»David. Vergessen Sie’s, genießen Sie einfach die Aufführung.« (aus: Der Salzpfad*)

Erst einige Zeit später erfahren die beiden, dass ihnen vermutlich ein berühmter Schriftsteller die Tickets spendiert hat.

»Das ist sein Pseudonym, Dummchen. Weiß doch jeder, dass er in Wirklichkeit David heißt.« (aus: Der Salzpfad*)
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Lektion 4 Selbst in der dunkelsten Geschichte gibt es einen Funken Humor, der das Erzählte in ein neues Licht taucht.

Gesellschaftskritik

Obdachlosigkeit und der Umgang mit obdachlosen Menschen ist ein zentrales Thema des Buchs. Besonders betroffen machte mich, als Ray und Moth im Hochsommer sogar kostenloses Wasser verweigert wurde:

»Danke, und könnten wir bitte noch Wasser für unsere Flaschen haben?«
»Nein. Kaufen Sie doch eine Flasche. Wir können nicht kostenlos Wasser abgeben, wenn wir es auch verkaufen.«
Es war das erste Mal, dass uns jemand Wasser verweigert hatte, und wir waren wie vor den Kopf geschlagen. (aus: Der Salzpfad*)

Die fehlenden Unterkünfte werden angesprochen und auch die Tatsache, dass man Obdachlosen unterstellt, sie seien selbstverschuldet auf der Straße gelandet:

»Das Problem ist, dass die Menschen glauben, wir seien lauter Süchtige, deshalb haben sie keine Lust zu helfen. Sie halten es für Zeitverschwendung.«
»Natürlich leben viele Süchtige auf der Straße, aber jeder Obdachlose verdient, dass man ihm hilft, egal aus welchem Grund er obdachlos ist.« (aus: Der Salzpfad*)

Doch auch andere Themen werden gestreift: Naturschutz, Umweltverschmutzung und ihre Folgen sowie die Geschichte des Bergbaus – ich hatte nach dem Lesen das Gefühl etwas mehr davon zu verstehen, welche gesellschaftlichen, historischen und sozialen Kontexte Großbritannien geprägt haben.

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Lektion 5 Der Mensch ist Teil der Gesellschaft, in der er lebt. Jedes persönliche Problem in einer Geschichte hat auch immer eine gesellschaftliche Dimension, die es sich zu ergründen lohnt.

Was ich nicht mochte

Das Einzige, was ich persönlich nicht gebraucht hätte, waren die Bilder am Ende des Buchs. Ich glaube, das lag vor allem daran, weil ich Der Salzpfad* als Roman gelesen habe – und die Begegnung mit der Realität hat mich aus dieser Illusion gerissen. Andererseits war es sehr nett, Ray und Moth zu sehen.

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