Jane trifft Andrea

Jane trifft Andrea

Andrea Hahnfeld

Es war ganz unmöglich, an diesem Tage einen Spaziergang zu machen. Daher war ich froh, als eine Hand nach meinem Buch griff und es aufklappte.

Ich blinzelte, geblendet von der Frühlingssonne, die mir von der anderen Seite entgegenstrahlte. Sonne! Wäre es mir nur irgend möglich gewesen, ich wäre hinübergesprungen. Aber so war die Welt. Es gab jene Seite, in der sich alles änderte, alles spannend war und unvorhersehbar. Und es gab meine Seite. Langweilig und novembergrau. Ich seufzte. Wenigstens etwas Abwechslung würde mich heute erwarten. Eine unbekannte Leserin. Ich musterte das Gesicht des Mädchens, das etwas älter war als ich. Vielleicht dreizehn. Die Haare trug es unerhört kurz, fast hätte ich es deswegen für einen Jungen gehalten. Aber welcher Junge greift schon nach meinem Buch? Das Mädchen las meine ersten Zeilen mit zusammengezogenen Brauen. Sein Ausdruck hatte etwas Unerbittliches, was wohl an der Narbe lag, die sich genau zwischen seinen Augen in die Stirn grub. Unwillkürlich rieb ich mir über die eigene Stirn. In ein paar Seiten würde mir John Reed ein dickes Buch an den Kopf werfen, das tat mir immer schon auf der ersten Seite weh. Dass es so etwas wie Vorfreude gibt, wissen die meisten. Den Vorschmerz kennen allerdings nur Romanfiguren. Besonders gut jene, die so alt sind wie ich und ihre Geschichte schon auswendig hersagen können. Ob es im Leben des Mädchens auch einen John gab, der ihm Bücher an den Kopf warf? Ob es daher die Narbe hatte?

Der kritische Blick des Mädchens klebte noch immer auf meiner ersten Seite. Warum blätterte es nicht endlich weiter? Langsam tasteten sich seine Augen über meine Zeilen. Eine plötzliche Enge schnürte mir die Brust, wie ein zu fest gezurrtes Korsett. Waren meine Wörter zu kompliziert? Die Sätze zu lang? War ich, Gott verhüte, aus der Mode gekommen? Leg mich nicht weg, flehte es in mir. Nur noch ein bisschen. Als das Mädchen zur nächsten Seite blätterte, stieß ich die Luft aus. Vor Anspannung hatte ich sie unbemerkt angehalten. Dem Himmel sei Dank, etwas Zeit blieb mir noch. Ich sehnte mich nach dieser wunderbaren Welt, auf die ich immer seltener einen Blick erhaschen durfte.

Über die Schulter des Mädchens hinweg strahlte mich durch ein Oberlicht das Blau des Himmels an. Ich lächelte. Da zog wohl noch jemand ein gutes Buch einem langen Spaziergang vor. Die Tatsache, dass selbst das schöne Wetter das Mädchen nicht nach draußen zu locken vermochte, rang mir Respekt ab. Mit einer geübten Handbewegung griff nach meinem eigenen Band: Bewicks Geschichte von Englands gefiederten Bewohnern. Mit gekreuzten Beinen setze ich mich in die Fenstervertiefung, zog die Vorhänge um mich und schlug das Buch an einer beliebigen Stelle auf. Eine der wenigen Freiheiten, die ich genoss. Der Wasserläufer. Schon wieder. Zufälle gab es zwischen diesen beiden Buchdeckeln schon lange nicht mehr. Ich seufzte. Wie schade nur, dass das Lesen eine leise Angelegenheit geworden war. So gerne hätte ich wenigstens die Stimme des Mädchens gehört. Irgendeine Stimme. Als hätte jemand meinen innersten Wunsch vernommen, feldwebelte eine Männerstimme:

»Ist die Wäsche schon gebügelt?«

Ich schrak auf. Das war nicht der Text von Bessie. Und John Reeds Einsatz war erst in fünf Seiten. Aufgeregt reckte ich den Hals. Doch bevor ich etwas sehen konnte, hatte das Mädchen mein Buch bereits auf den Tisch geworfen und war mit einem »Fast fertig!« aufgesprungen.

Ich war allein — und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Sie hatte vergessen mich zuzuklappen! Selig starrte ich die drei Glaskugeln an, die an Seilen von der Decke hingen. Welchen Zweck sie wohl hatten? Gedankenverloren zählte ich die Luftblasen, die darin gefangen waren und lauschte all den wunderbaren, unvorhersehbaren Klängen der echten Welt. Das war das Schönste, das mir in hundertfünfzig Jahren passiert war.

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