Charakter-Karten basteln

Charakter-Karten basteln

Andrea Hahnfeld

Im Oktober 2020 habe ich an einem Online-Seminar des BVjA teilgenommen: Charakter-Karten, eine von Ingrid Werner entwickelte Methode, um Figuren zu entwickeln.

Zur Methode gibt es auch ein Buch, das die Vorgehensweise ausführlich mit Beispielen, wissenschaftlichen Hintergründen sowie Videos erklärt: CharakterCards – Die intuitive Figurenentwicklung für Roman und Drehbuch*

Bereits nach meiner ersten Charakter-Karte, die ich während des Seminars entwickelt habe, war mir klar: Das ist genau mein Ding.

Ich bin überzeugt, dass auch dir diese Methode helfen könnte. Daher erkläre ich dir in diesem Artikel genau, wie die Methode funktioniert.

Was sind Charakter-Karten?

Charakter-Karten sind eine kreativ-intuitive Methode der Figurenentwicklung. Die Methode trägt ihren Namen aufgrund der Character Cards von Rollenspielen. Das ist aber auch die einzige Gemeinsamkeit. Es handelt sich vielmehr um Collagen, die du aus dem Bauch heraus für deine Haupt- und Nebenfiguren entwickelst.

Hintergründe

Vielleicht kennst du es selbst: Als Autorin sitzt du viel vor dem Computer. Deine Arbeit ist meist schriftlich, nicht selten analytisch – vor allem, wenn du den Plot deiner Geschichte entwirfst oder in der Überarbeitung steckst.

Dabei kommt das Intuitive, das Kreative, das Schaffende oft zu kurz. Die Charakter-Karten-Methode packt genau dieses Missverhältnis an: Du arbeitest mit deinen Händen, lässt dich von Bildern & Symbolen inspirieren, hörst auf dein Bauchgefühl – und entdeckst dabei spielerisch neue Seiten an deiner Figur.

Die Methode spricht vor allem die rechte Gehirnhälfte an, die durch Metaphern aktiviert wird, auf Fantasie und Vorstellungskraft zurückgreift und das große Ganze im Blick hat. Leider wird diese Hemisphäre oft viel zu wenig eingesetzt. Sie zu benutzen, wird den meisten bereits bei Schuleintritt abgewöhnt.1

Als Schriftstellerinnen brauchen wir aber beide Gehirnhälften, um gute Geschichten zu schreiben. Daher ist es schön, dass Ingrid Werner eine Methode entwickelt hat, die gezielt die häufig vernachlässigte rechte Gehirnhälfte anspricht.

Damit die Methode funktioniert, musst du allerdings ein paar Regeln beachten.

Die 6 Regeln für gute Charakter-Karten

Nutze keinen Computer

Klar kannst du auch mit dem Computer Collagen erstellen. Und ja, im Internet gibt es viel mehr Bilder. Aber es geht bei dieser Methode darum, gezielt offline zu arbeiten.

Vergiss deinen Plot

Das mag etwas widersinnig erscheinen, denn die Charakter-Karten sind für deine Geschichte gedacht. Versuche trotzdem so viel wie möglich von deiner Geschichte zu vergessen. Lasse dich treiben, vertraue beim Erschaffen der Karte deiner Inspiration. Wenn du magst, kannst du dich vorab aufs Basteln einstimmen: Höre zum Beispiel ein Lied oder meditiere kurz.

Sammeln und nicht nachdenken

Für die Methode brauchst du ganz viele Bilder. Die müssen erst einmal gesammelt werden. Dafür brauchst du Zeitschriften und Magazine. Und zwar ziemlich viele. Schneide dir alles aus den Heften, das dich inspiriert. Hinterfrage nicht, warum es dich inspiriert oder ob es zu deiner Geschichte passt. Reiße es einfach raus (bzw. schneide es fein säuberlich aus, wenn du wie ich alles gerne ordentlich hast 🙃). Ich fand das übrigens eine sehr entspannende Tätigkeit, die wirklich Spaß machte. Am Ende hast du einen großen Stapel an Bildern. Das ist Grundlage für deine Collagen.

Fürs Sammeln kannst Werbehefte, Magazine, Bildbände oder eigene Fotos nehmen. Zur Not kannst du auch im Internet Bilder ausdrucken. Für meine Karten wurde ich hier fündig:

  • National Geographic
  • Apothekenheft
  • Werbeheft vom Biomarkt
  • Radwelt vom ADFC

Ingrid Werner gibt den Tipp, sich je nach Genre passende Hefte zu besorgen. Für Liebesromane eigenen sich Frauenzeitschriften, für Erotik Fitnessmagazine, Thriller- & Krimi-Autorinnen werden in Nachrichtenmagazinen fündig. Auch geeignet sind Computerzeitschriften sowie Magazine zu Kunst und Architektur.

🔥
Schau einfach mal bei Ebay-Kleinanzeigen. Dort verkaufen Leute oft sehr günstig Heftsammlungen. Ich habe für nur 10 EUR zwanzig Ausgaben des National Geographic bekommen.

Sammle mit System

Achte beim Sammeln darauf, dass du wirklich alles herausschneidest, das auch nur im Entferntesten für deine Collage (und spätere Collagen) geeignet sein könnte. Du brauchst:

  • Frauen
  • Männer
  • Kinder
  • Tiere
  • Landschaften
  • Gebäude
  • Hintergründe
  • Objekte (z.B. spirituelle Elemente)

Je mehr du sammelst, umso größer ist dein Fundus und umso wahrscheinlicher sind neue Verknüpfungen und Geistesblitze beim Erstellen der Collage. Am besten sortierst du die Bilder nach dem Sammeln in Kategorien. Diese Vorarbeit erleichtert dir das Basteln. Denn beim Erstellen der Charakter-Karten gibt es eine feste Reihenfolge.

Ohne Worte

Schneide alle Zahlen, Wörter und Texte aus den Bildern heraus. Das ist sehr wichtig, denn Texte sprechen die linke Gehirnhälfte an. Sobald du Wörter oder Zahlen auf deinem Bild siehst, fängt dein Gehirn an zu lesen — und schwups ist die linke Gehirnhälfte aktiviert. Du willst aber nur die rechte Gehirnhälfte ansprechen. Dafür brauchst du das pure Bild.

Offen bleiben für Neues

Vielleicht hast du bereits eine Vorstellung zu deiner Figur im Kopf. Bleibe dennoch offen für Neues. Nimm in die Collage deiner Charakter-Karte auf, was dich spontan anspricht – auch wenn es auf den ersten Blick gar nicht zu deiner Figur zu passen scheint. Vertraue deiner Intuition!

Charakter-Karten basteln – in zwei Schritten

Das Werkzeug

Neben dem gesammelten Rohmaterial brauchst du:

  • Schere
  • Cutter
  • Schneideunterlage
  • einen Klebestift
  • Lineal
  • festeres Papier oder Bastelkarton (zum Aufkleben der Collage)
  • ein Papierrahmen (um die Anordnung der einzelnen Elemente auszuprobieren)
  • ein Aufnahmegerät (z.B. dein Smartphone)

Schritt 1 – Basteln

  • Wähle zuerst eine Nebenfigur. Ingrid Werner empfiehlt, bei der ersten Charakter-Karte eine Nebenfigur zu wählen. So kannst du dich mit dem Ablauf vertraut machen – und die Karten für deine Hauptfiguren werden besser.
  • Suche eine Person Im ersten Schritt durchsuchst du deinen Bildfundus nach der passenden Person für die gewählte Figur. Nimm eine Person, die dich inspiriert. Es ist nicht so wichtig, ob diese Person genauso aussieht, wie du dir ursprünglich diese Figur deiner Geschichte vorgestellt hattest. Oft ist es ein Gesichtsausdruck oder ein Funkeln in den Augen, das einen in den Bann zieht. Nimm diese Gefühle beim Basteln ernst und lass dich auf sie ein!
Auf jede Karte kommt nur eine Person! Schließlich hat jede deiner Figuren ihre eigene Charakter-Karte verdient.
  • Maßarbeit Beim Ausschneiden solltest du dir sehr viel Mühe geben. Versuche die Person so gut wie möglich auszuschneiden. Das ist bereits die erste Beschäftigung mit deiner Figur. Respektiere sie, denn sie wird in deiner Geschichte noch eine Rolle spielen.
  • Ab in den Rahmen Schiebe die Figur jetzt in deinem Rahmen umher. In welcher Hintergrund könnte wohl passen? Begib dich auf die Suche.
  • Der passende Hintergrund Durchsuche jetzt deinen Bildfundus nach einem Hintergrundbild. Es sollte so groß sein, dass es den Rahmen ganz ausfüllt. Du kannst – wie bei jeder Collage – den Hintergrund auch aus mehreren Teilen kreieren. Lege die gefunden Hintergründe unter deine Figur. Finde den passenden Bildausschnitt, indem du den Hintergrund im Rahmen verschiebst. Höre auf deine innere Stimme und tu, was dir richtig erscheint.
  • Gegenstände und mehr Begib dich jetzt auf die Suche nach passenden Gegenständen. Das können Tiere oder Objekte sein. Suche nicht bewusst, sondern lass dich von deinen Gefühlen leiten. Entscheide dich spontan! Schneide passende Gegenstände aus und lege sie in den Rahmen. Probiere unterschiedliche Kombinationen aus – so lange, bis etwas in dir sagt: »Das ist es!«
  • Wenn alles passt: kleb’s fest! Jetzt darfst du endlich zum Klebestift greifen und die Collage auf dem Bastelkarton festkleben. Beginne mit dem Hintergrund. Mache dir Fixpunkte (zum Beispiel mit einem Bleistift), um den Bildausschnitt sowie Positionen zu markieren. Achte darauf, dass diese Fixpunkte auf der fertigen Charakter-Karte unsichtbar sind. Klebe anschließend die Person und die Objekte auf. Fertig ist deine Karte — jedoch nicht die Methode.

Schritt 2 – Besprechen

Jetzt beginnt der zweite Teil der Methode: die Besprechung. Für mich persönlich war das der ungewöhnlichste Teil. Aber ich habe mich darauf eingelassen. Es hat Spaß gemacht und ich habe ganz neue Seiten an meiner Figur entdeckt.

So geht’s:

  • Aktiviere die Aufnahmefunktion auf deinem Handy.
  • Nimm deine Karte in die Hand und betrachte sie genau.
  • Versetze dich in deine Figur und verleihe ihr deine Stimme. Lasse sie erzählen. Benutze dabei die erste Person (Ich).

Du kannst die Besprechung ganz frei gestalten. Wenn dir das schwer fällt, empfiehlt Ingrid Werner einige Satzanfänge, die dir den Einstieg erleichtern:

  • Ich bin/ich war… Lass deine Figur erzählen, wer sie ist und wer sie gewesen ist. Vielleicht erzählt sie dir etwas über ihre Kindheit. Oder etwas darüber, worauf sie gerade in ihrem Leben stolz ist.
  • Ich will… Deine Figur hat Ziele. Mit diesem Satzanfang lockst du mehr aus ihr heraus – und erfährst, was deine Figur motiviert.
  • Ich brauche… Deine Figur hat Bedürfnisse. Auch sie sind ein Antrieb für ihr Handeln.
  • Ich fühle mich… Alle Figuren haben Gefühle – selbst Bösewichte. Sprich gerne auch Gefühle zu konkreten Situationen an.
  • Das fühle ich, wenn ich an (andere Figur, bestimmte Situation) denke… Lass deine Figur darüber sprechen, was sie empfindet, wenn sie an andere Figuren (zum Beispiel Gegenspieler oder Geliebte) oder an entscheidende Ereignisse denkt.

Wenn alles gesagt ist, höre dir an, was deine Figur dir erzählt hat und protokolliere es. Das geht selbstverständlich auch vollautomatisch. Zum Beispiel mit der Diktierfunktion.

Meine Charakter-Karten

Für mein Buchprojekt Jelina & Jaro habe ich für alle Figuren Charakter-Karten nach dieser Methode erstellt. Begonnen habe ich mit einer wichtigen Nebenfigur: der Schwarzen Nonne.

Collage zur Figurenentwicklung mit Charakter-Karten

Während der Arbeit an der Karte habe ich mich intuitiv eher mit ihrem Leben befasst, bevor sie die Schwarze Nonne wurde. Bei der Besprechung habe ich herausgefunden, dass Tilda in einen Maori (Tane) verliebt war. Im Andenken an ihn hat sich sich nach seinem Tod tätowiert, der Gesellschaft abgeschworen und in den Wäldern mit ihrem Kind ein Leben in der Natur begonnen. Was sie von Tane gelernt hat, wird in ihrer Hand zu einer ganz eigenen Art der schwarzen Magie. Tilda treibt vor allem ihr gebrochnes Herz und der Wunsch nach Rache an. Sie möchte sich an dem Grafen von Grimmstein rächen. Er hat Tane zum Tod verurteilt. Gleichzeitig möchte sie die Liebe, die sie für Tane empfunden hat, mit allen Mitteln am Leben halten. Diese Erkenntnisse haben dazu geführt, dass Tilda inzwischen zu einer Hauptfigur aufgestiegen ist. Sie war zwar von Anfang an die Antagonistin, agierte jedoch immer nur im Hintergrund und hatte keine Hauptrolle. Jetzt hat sie ein Eigenleben und ihre eigene faszinierende Geschichte bekommen.

Mich hat die Charakter-Karten-Methode von Ingrid Werner überzeugt. Inzwischen habe ich meinen eigenen, größer werdenden Fundus an Ausschnitten aus Zeitschriften.

Wie ist es dir beim Ausprobieren dieser Methode ergangen? Hast du Neues über deine Figur erfahren? Teile deine Erkenntnisse in den Kommentaren.

  1. Falls dich die genauen Hintergründe zur Nutzung der rechten und linken Gehirnhälfte interessieren, findest du bei Maria Erlenbach einen schönen Artikel zum Thema.

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