Wer hat das geschrieben?
Martin Kordić ist ein deutscher Schriftsteller, der in Mannheim aufgewachsen ist. Auf seinen 2022 erschienenen Roman Jahre mit Martha* bin ich zufällig gestoßen.
Ich war wieder einmal am Recherchieren, für welches Stipendium ich mich denn bewerben könnte. Spoiler Alert: Als Selfpublisherin ist es ziemlich unmöglich, an Stipendien zu kommen. Trotzdem war ich neugierig, welche Autorinnen gewöhnlich mit Stipendien gefördert werden und was sie schreiben.
Martin Kordić konnte bereits viele Stipendien ergattern, unter anderem ein Stipendium des Deutschen Literaturfonds sowie ein Aufenthaltsstipendium des LBC. Er ist mir allerdings vor allem aufgefallen, weil er an der Universität Hildesheim Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studiert hat. Diesen Studiengang hatte ich für mich selbst einmal in Betracht gezogen, mich dann aber für den Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben an der ASH Berlin entschieden. Darum war ich besonders interessiert zu erfahren, was Absolventinnen dieser der Uni Hildesheim so schreiben.
Ich habe mich für Kordićs erfolgreichstes Buch entschieden. Eigentlich wollte ich nur den Klappentext und ein paar Seiten lesen. Als aber auf der Klappe stand, dass der Protagonist des Romans aus Ludwigshafen stammt, musste ich das Buch sofort haben. Denn mein Geburtsort liegt unweit von Ludwigshafen – immerhin so nahe, dass auch wir Fenster und Türen geschlossen haben, wenn etwas in der BASF schiefgegangen war. Weil Ludwigshafen schäbig und hässlich ist, fand ich es klasse, dass diese Stadt auch mal in einem Roman als Schauplatz mitspielen durfte.
Jahre mit Martha* hat übrigens – wie ich später erfuhr – mehrere Preise gewonnen. Unter anderem den Tukan-Preis 2022 der Landeshauptstadt München.
Worum geht’s?
Protagonist des Romans ist Željko Draženko Kovačević, der sich einfachheitshalber »Jimmy« nennt. Der Name ist ein Überbleibsel aus dem Englischunterricht der 5. Klasse, der an ihm hängen bleibt. Einerseits, weil Jimmy der Name gefällt, denn er stellt ihn in eine Linie mit den großen Boxern aus dem Balkan, die alle deutsche Namen angenommen haben. Andererseits, weil es »für alle eine große Erleichterung [ist], dass [er] nun einfach ›Jimmy‹ [heißt]« (Jahre mit Martha,* S. 32).
Beim Geburtstag seiner Mutter trifft er auf Martha Gruber, die Frau, bei der seine Mutter putzt und für die eigens Schwarzwälder Kirschtorte besorgt wird. Zwischen dem ungleichen Paar entspinnt sich eine ungewöhnliche Liebesgeschichte. Jimmy, der fünfzehnjährige Teenager aus ärmlichen Arbeiterverhältnissen mit Migrationshintergrund, sehnt sich nach Bildung und einem anderen Leben. Die wesentlich ältere Marta stammt dagegen aus gutem Hause, hatte nie Geldsorgen und als Akademikerkind selbstverständlichen Zugang zu Bildung. Sie ist alleinerziehende Mutter mit Kind und arbeitet als Professorin an der Universität Heidelberg, und als sie beim Einkauf mitbekommt, dass Jimmy Zeitungen aus Papiercontainern fischt, um sich zu bilden, ist sie fasziniert von dem Jungen. Sie engagiert ihn als Tierpfleger und Gärtner. Als Jimmy während der großen Ferien einen Kaninchenstall für Martha baut, nähern sich die beiden an. Teil eins des Romans endet mit einer gemeinsamen Nacht am See, wo sich die beiden küssen, Martha die sich anbahnende Beziehung jedoch abbricht, weil Jimmy viel jünger ist.
Nach dem Abitur zieht Jimmy nach München um. Er hat ein Stipendium erhalten, kann sich aber die Bürgschaft für die Wohnung nicht leisten. Er schreibt Martha, die fraglos und umfänglich für Jimmy bürgt.
Jimmy fühlt sich an der Universität fremd. Um Geld für ein Fahrrad zu sparen und so mehr von München sehen zu können, nimmt er einen Job im Balkan Grill an – trotz Job, Stipendium und Kindergeld sind die Mittel knapp. Als er eines Abends beschließt, ein Fahrrad zu stehlen, macht er die Bekanntschaft mit Alex Donelli. Ihm gehört nicht nur das Fahrrad (das er ihm später schenkt), er ist auch der aufregendste Literaturprofessor der Universität. Donelli bietet Jimmy einen Job – allerdings nicht als Hilfskraft über das Institut, sondern aufgrund einer privaten Abmachung. Jimmy soll für Donelli Seminare leiten, Briefe für ihn schreiben, universitätsinterne Dokumente in seinem Namen unterschreiben. Dass dieser Job merkwürdig ist, zeigt bereits die Art der Bezahlung: in bar und in einem unbeschrifteten Umschlag, den Donelli für Jimmy auf den Schreibtisch legt. Dennoch liebt Jimmy seinen neuen Job. Er fühlt sich in Donellis Nähe besonders und genießt, dass alle mit ihm befreundet sein wollen.
In dieser Zeit nimmt Martha wieder Kontakt zu ihm auf und sie treffen sich zu einem Rendezvous in einem Wellness-Hotel, für das Martha bezahlt. Beide nähern sich an und ihre Beziehung wird sexuell, obwohl sie nicht miteinander schlafen.
Erst Wochen später lieben sie sich auf einem Segelboot zum ersten Mal. Nach dieser Nacht erhält Jimmy die Nachricht, dass sein Großvater gestorben ist. Die Tradition verlangt, dass er binnen eines Tages zur Beerdigung in der Herzegowina ist. Dank Marthas Mithilfe gelingt es. Auf der Fahrt durchqueren sie die vom Krieg gezeichnete Landschaft, und Martha versteht zum ersten Mal, was Jimmys Familie durchgemacht hat.
»Das ist von den Panzern«, sagte ich. «Diese Straße ist nicht gemacht [...] Mir tat das alles umgehend sehr leid. Ich hatte kein Gefühl dafür, wie das für jemanden sein musste, der den Krieg zum ersten Mal als etwas erkannt, was nicht abstrakt war. [...] Der das zum ersten Mal mit jemanden in Verbindung brachte, für den er Gefühle hatte, und der es dadurch zum ersten Mal mit sich selbst in Verbindung bringen konnte. (Jahre mit Martha,* S. 163/164)
Teil zwei endet mit einer Szene auf dem Friedhof in der Herzegowina, auf dem jeder Grabstein Jimmys Nachnamen trägt.
Zurück in München schickt Martha Jimmy eine Kreditkarte zur freien Verfügung. Zum ersten Mal hat Jimmy Geld und lebt, wie es ihm beliebt. Allerdings kommt es zu ersten Verstimmungen mit Donelli, die Jimmy nicht versteht. Die homoerotische Stimmung zwischen den beiden bleibt unerklärt. Einige Wochen später lässt Donelli Jimmy fallen, ersetzt ihn durch einen anderen »Jungen«, was Jimmy in eine tiefe Krise stürzt:
Über Alex Donelli nachzudenken, bedeutet, über die eigene Blödheit nachzudenken. Ich konnte mich an niemanden wenden, unser Arbeitsverhältnis war kein offizielles, kein angemeldetes Arbeitsverhältnis gewesen. Zu wem also sollte ich gehen? Bei wem sollte ich mich beschweren? Wen interessierte es überhaupt? (Jahre mit Martha,* S. 192)
Als Donelli sich dann auch weigert, Jimmy zu prüfen, steht dieser vor der Herausforderung, einen neuen Prüfer zu finden – und besteht seinen Uniabschluss deshalb nur mit Mühe und Not.
In der Arbeitswelt kommt Jimmy nicht an. Er sabotiert sich selbst, beginnt zu kiffen. Auch mit Martha bricht der Kontakt ab. Mit seinen Habseligkeiten, gestopft in zwei Plastiktaschen, kehrt er nach Ludwigshafen zurück, wie er es verlassen hat. Dort beginnt er, Autos über die Grenze nach Bosnien-Herzegowina zu schmuggeln.
In einem Fußballverein will sich Jimmy sozial engagieren, ist Jugendleiter und schreibt Artikel für das Vereinsblatt. Als der NSU-Prozess beginnt und sich sein Vater den Schnurrbart abrasiert, um nicht wie ein Migrant auszusehen, schreibt Jimmy den Artikel »Werdet unsichtbar!« und verliert deswegen sein Amt als stellvertretender Jugendleiter.
Der kontroverseste Artikel, der jemals in Glas Vorderpfalza erschien, war zugleich auch mein letzter. (Jahre mit Martha,* S. 247)
Ganz unten angekommen, beschließt Jimmy, eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner zu beginnen – womit sich ironischerweise erfüllt, was ihm der Mitarbeiter während eines Besuchs im Berufsinformationszentrum in der zehnten Klasse vorgeschlagen hatte. Die Arbeit macht ihn glücklich – und führt ihn zu einem Anwesen, das ihm aus Jugendzeiten gut bekannt ist: Marthas Haus.
Welche Stellen sind für Schreibende interessant?
Jahre mit Martha* glänzt durch zwei Stellen, die meines Erachtens alle Schreibenden einmal gelesen haben sollten.
Konzert-Szene in Kapitel 4
Im vierten Kapitel beschreibt Martin Kordić, wie Jimmy mit seiner Schwester Ljuba ein Konzert gibt. Sie spielen dabei ein Michael Jackson Konzert nach, dessen Höhepunkt das Lied ist, das im Abspann von Free Willy lief.
Ich bewundere in diesem Kapitel, wie gut der Autor den ikonischen Auftritt von Michael Jackson einfängt. Jeder, der zu dieser Zeit jung war, hat sofort die passenden Bilder vor Augen – selbst, wenn er kein Michael Jackson Fan gewesen ist.
Berührend auch, wie dieses Konzert die Bindung zwischen Jimmy und seiner Schwester einfängt.
Schach-Flirt in Kapitel 12
Wer einmal lesen möchte, wie ein ungewöhnlicher Flirt aussehen kann, dem möchte ich Kapitel 12 ans Herz legen. Genial fand ich dabei, wie die Zettel, auf denen sich die Liebenden ihre Schachzüge schicken, einen spannenden Subtext kreieren.
Hommage an Hertha Kräftner
Immer wieder gibt es im Buch Verweise auf Hertha Kräftner. Jimmy entdeckt ein Buch mit Bildern und Texten von ihr in einer Buchhandlung. Über Jahre hinweg wird dieses Buch, in dem Kräftner alle ihre Texte datiert und eine Chronologie ihres Lebens schreibt, zu Jimmys treuem Begleiter.
Ich mochte, dass Kordić so ganz nebenbei ein kleines Schlaglicht auf eine unbekannte Autorin wirft und sie einem breiteren Publikum vorstellt. Natürlich wurde ich neugierig auf Kräftner, die in jungen Jahren Suizid begangen hat und als großes Schreibtalent in der österreichischen Literaturszene galt. Das Buch Kühle Sterne* mit Gedichten, Prosa und Briefen der Autorin kann ich sehr empfehlen. Allerdings möchte ich an dieser Stelle auch eine Trigger-Warnung aussprechen, denn das Buch beinhaltet die Abschiedsbriefe, die Hertha Kräftner vor ihrem Suizid an Freunde und Verwandte verschickt hat.
Was denke ich über das Buch?
Ich fand das Buch fantastisch – auch wenn ich mich an manchen Stellen fragte, wie ich die Geschichte empfunden hätte, wenn die Geschlechterrollen vertauscht gewesen wären. Zwar verführt Martha den minderjährigen Jimmy nicht, aber stellenweise könnte man von Grooming sprechen. Trotzdem verstört die Geschichte diesbezüglich nicht, denn sie ist ehrlich, tiefsinnig und zartfühlend geschrieben.
Jimmys Schicksal hat mich eigenartig berührt. Einige Episoden in seinem Leben kamen mir aus meinem eigenen Leben sehr vertraut vor und ich verspürte eine große Resonanz mit dem Protagonisten: Das Gefühl nicht richtig dazuzugehören sowie gute Noten »nur aus Glück zu schreiben«. Trotz guter Noten »nur« eine Realschulempfehlung zu bekommen, weil man aus einem bestimmten sozialen Umfeld stammt. Sich an der Universität fremd zu fühlen und sich mit der unguten Gewissheit zu plagen, mit seinem Studium nichts Richtiges angefangen zu haben. Die englischen Namen aus dem Schulunterricht, die einigen Mitschülerinnen und Mitschülern bis zum Realschulabschluss anhafteten.
Insgesamt ein Buch, das mich nachdenklich gestimmt und stark berührt hat. Mir gefällt auch, dass bis zum Ende so vieles offen bleibt. Beispielsweise, was genau Martha und Jimmy zueinander gezogen hat oder weshalb Jimmy sich selbst sabotiert. Ich hatte das Gefühl, das Buch mit dem Herzen zu verstehen – nicht mit dem Verstand.
Der Weg in eine tiefsitzende Verzweiflung ist ein langer. Vielleicht liegt sein Anfang irgendwo in der Kindheit, und dann wird er von unüberblickbaren Zufällen bestimmt. (Jahre mit Martha,* S. 204)
Im Deutschlandfunk gibt es übrigens ein hörenswertes Interview mit dem Autor: Martin Kordić – »Jahre mit Martha« – Liebe und Diskriminierung
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